Grenzwertig

Nunmehr bin ich seit einer Woche in Charleville-Mézières und ich fühle mich wohl, eben wie Gott in Frankreich. Weil ich von jeglicher Verpflichtung entbunden, im Artisans du Monde nach freier Zeiteinteilung mit kommunikativen Damen zusammen arbeiten darf, ohne eine Stechuhr im Rücken und keinerlei Arbeitsdruck verspüre.

Es ist es Gelegenheit sich zu erinnern, wie es vor 50 Jahren war, wenn heute von einem Dexit phantasiert wird. Das Merkantilsystem, nur exportieren und Importe hoch verzollen, hat schon Ludwig XIV vor große Probleme gestellt und mit seinen Kriegen eine Staatsbankrott provoziert. Die EU ist nur halb so groß wie die chinesische Provinz, die Mandschurei. Wer dann noch glaubt, durch Separatismus auf dem Weltmarkt bestehen zu können, überschätzt sich gewaltig.

Monique und ich etikettieren die Ware

Blicken wir 50 Jahre zurück und es sind meine, ganz allein meine persönlichsten Erinnerungen und ich gebe zu, sah ich eine staatstragende Uniform, war ich auf Krawall gebürstet.

Damals war nicht erst Frankreich das Abenteuer, sondern bereits die Anreise nach CMZ. Vom Münsterland durch das Ruhrgebiet mit Abraumhalden und Stahlwerken, in denen man vom Zug aus den rotglühenden Stahlstich verfolgen konnte, den Rhein entlang bis zum Deutschen Eck in Koblenz und dann die Mosel aufwärts bis zur Grenze nach Luxemburg.

Zöllner aller Länder sind unfreundlich und machen ihrem biblisch schlechten Ruf alle Ehre.

Die luxemburgischen Variante: „Die Ausweise!“ Ich zücke meinen grünen Pass. „Haben Sie etwas zu verzollen?“ Ich schüttele den Kopf unterhalb meiner blonden, schulterlangen, in Naturdauerwelle gefönten Haare und wirke nicht sehr überzeugend. „Ihr Koffer, öffnen sie ihn.“ Das Wort „Bitte“ scheint im luxemburgischen Zollsprachgebrauch unbekannt zu sein. Ich hieve den 30 Jahre alten, abgeschabten Koffer von der Gepäckablage herunter, der von etlichen aufgeklebten französischen Stadtwappen und den Wappen französischen Regionen des ancienne regime zusammen gehalten wird, und einen anarchistischen Eindruck erweckt.

„Warum haben Sie so viele Transit- und Einreisestempel der DDR im Pass?“ Mich erstaunt die Frage, denn was geht es einen luxemburgischen Zöllner an, wie häufig und wann ich in die DDR fahre?

„Um Bücher von Karl Marx und Lenin zu kaufen und wie man den Kapitalismus in Luxemburg abschafft“, lautet meine patzige Antwort. Wortlos erhalte ich meinen Reisepass zurück.

Kurz vor der Einfahrt in Luxemburg Bahnhof erscheint der Zöllner noch einmal mit der eindringlichen Aufforderung, ihm zu folgen. Wir betreten ein unscheinbares Gebäude mit der Einladung, mich zu setzen. „Wird das ein Verhör?“ möchte ich wissen. „Verhöre gab es bei Ihren Nazis, bei uns gibt es nur Vernehmungen.“ Ich merke, woher der Wind pfeift, verwahre mich aber gegen die Bemerkung „Ihre Nazis“. Es folgt ein belangloses Frage- und Antwortspiel, ergebnislose Durchsuchung meines Koffers und nach einer Stunde die korrekte Verabschiedung auf dem Bahnhof. Mein Zug nach Longwy ist raus.

Ich nehme es gelassen, Zeit für den Fahrkartenkauf. Am Ticketschalter eine lange Schlange US-Teens und Twens die for 5-$-a-Day Europa erkunden wollen. Kein Fahrkartenverkauf in DM, britischen Pfund oder US-Dollars, nur in luxemburgischen Francs. „Was kostet eine Fahrkarte nach Montmédy?“ Mit dieser Information reihe ich mich in die ähnlich lange Schlange am Wechselschalter ein. Nur DM-Scheine werden gewechselt, kein Münzgeld. Jetzt wieder in die Schlange vor dem Ticket-Schalter und wieder bekomme ich Münzgeld zurück, mit dem ich nichts anzufangen weiß. Die ev. Kirchengemeinde ruft nach den Sommerferien zu einer Kollekte auf, in welche man das Münzgeld aus den Urlaubsländern wirft, denn die Dülmener Stadtsparkasse wechselt auch keine Lira-, Gulden, Francs-, Kronen- oder Schilling-Münzen in D-Mark um. Und D-Mark-Münzen kann ich selbst in Kassenbons tauschen, dazu brauche ich keine Sparkasse.

Ich habe meine Fahrkarte nach Montmédy und stehe am luxemburgisch-französischen Zoll. Vermutlich wurde ich gefragt, ob ich etwas zu verzollen habe, da ich aber den Zöllner nicht verstehe, schüttele ich wieder nur den Kopf. Jedoch verstehe ich, den Koffer zu öffnen. Meine Wäsche ist mittlerweile nicht mehr wohlfeil geordnet. Er tastet sich durch, findet nichts und fragt auf deutsch: „Was wollen Sie in Frankreich?“ Ich bin verblüfft, denn das letzte Mal fragte mich das ein VoPo an der deutsch-deutschen-Grenze. Ich ioll nicht in Luxemburg übernachten und räume ein, meine Freundin besuchen zu wünsche. „Falls Sie nichts dagegen haben.“ Nächste Frage: „Haben Sie einen Arbeitsausweis?“ Meine Freundin hatte mir zuvor einmal erzählt, dass jeder Franzose sich zusätzlich zu seinem Personalausweis mit einem Arbeitsausweis legitimieren könne und sie hatte ein beiges Papier, in dem als Berufsbezeichnung „Deutschlehrerin’“ vermerkt war.

Sicherlich haben Mitarbeiter von großen Unternehmen Werksausweise, die sie den Pförtnern zeigen, den wohl aber niemand mit in den Urlaub nimmt. Den Wehrpass mit ins Ausland zu nehmen, ist sogar ausdrücklich untersagt. Glücklicherweise habe ich einen Presseausweis der Münsterschen Zeitung dabei, der mich als freier Mitarbeiter ausweist. Ich krame ihn hervor, der Zöllner ist zufrieden, es wird mir gestattet, französisches Hoheitsgebiet zu betreten.

Diese Prozedur gab es je nach meiner Lust und Laune der Zollbeamten alle sechs Wochen bis drei Monate.

Leider gilt mein 49-Euro-Ticket heute nur bis Luxemburg. Deutsch-französische Verhandlung über ein gemeinsames Ticket sind gescheitert, was eine lohnenswerte Aufgabe für EU-engagierte Jungpolitiker wäre, wie es bereits das Interrail-Ticket für Senioren gibt.

Unterschiede gibt es zweifelsohne noch zahlreiche, nur sind sie nicht so offensichtlich und meistens intern zwischen der Bevölkerung und dem Staat und dann kann schon sehr viel heftiger als in Deutschland demonstriert und auch gekämpft werden. Die 68er in Paris suchten und fanden den Strand unter den Pflastersteinen des Champs Elysées wie auch die „Gelb Westen“ vor sechs Jahren in CMZ, in der Provinz, Autos anzündeten.

Ich bin 50 Jahre später friedlicher, wohlerzogender und vielleicht liebenswerter geworden, aber Zollbeamte gehören auch heute noch nicht zu meinen Freundeskreis.

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