Montmédy

Der Zug hat mich rausgeworfen, ausgespuckt, mich auf den Bahnsteig gestellt, scheint es eilig zu haben, fort zu kommen. Will lieber schneller in seinem Endbahnhof sein, als mich sehen, wie es mir in der nächsten Stunde geht. Es ist niemand da, wie auch vor 50 Jahren nie jemand da war, wenn man hier ankam oder wegfuhr.

Montmédy, 2.300 Einwohner laut Interneteintrag, das waren es damals auch wohl so viele, eher mehr. Keine historische Persönlichkeit gibt Montmédy als Geburtsort an, eher hätte Montmédy in die Geschichtsbücher vermiedener Revolutionen eingehen können.

Hätte es der französische König Ludwig XVI. auf seiner Flucht vor den revolutionären Parisern geschafft, unerkannt nach Montmédy zu gelangen, dann … Aber sein Halbprofil war auf jede Münze gepunzt, er wurde erkannt und nach Paris zurück geschickt, aufs Schafott. Montmédy hat seine Chance vertan, historisch zu werden. Ich bin auf keiner Münze im Halbprofil, ich bin unbekannt, auf mich wartet keine Guillotine, ich passe zu Montmédy. Das Bahnhofsgebäude erkennt mich auch nicht, es ist blind geworden, seine Fenster wurden zugemauert, die Steine zerbröseln, wie die Zeit zerrinnt. Auf einige Geleise hat sich Rost gelegt, zwischen den Schwellen wächst Gras, als hätte ein Grab schon lange niemand mehr besucht.

Eine Ansichtskarte in der Hand, eine Luftbildaufnahme, zeigt den Bahnhof, die Rue de la Gare, eine Häuserzeile an dieser Straße und einige Häuser im Hintergrund, die sinnlos, wahlweise zusammengewürfelt zusammen stehen, ohne Berührungspunkte. Ein Dorf, dass als Postkartenmotiv nichts anderes als seinen Bahnhof vorzuweisen hat. Eine Straße führt zum oberen Kartenrand als wollte sie mir einen Fluchtweg zeigen, dabei zeigt sie auch die Eisenbahngeleise, die in einer Richtung in einem Tunnel enden.

Auf der Karte kann ich nicht mehr das Haus nennen, in welchem wir wohnten, als ich am Bahnhofsgebäude vorbei gehe, erkenne ich es auch nicht sofort wieder. Als ich das erste Mal morgens um 4 Uhr nach Montmédy kam, hatte die nahe Meuse den Nebel eines ganzen Sommers in jeder Straße verteilt, um den schwachen Lichtschein jeder Laterne gehüllt und jedes Straßenschild übermalt. Aber wer nicht sehen kann, der muss hören. Ein schwerer Güterzug fuhr durchs Dorf und er fuhr an der Rue de la Gare entlang. Jetzt stehe ich wieder vor jenem Haus, aus welche ich morgens um 4 Uhr die Vermieter der Wohnung meiner Freundin rausgeklingelt habe. Denn ein eigenes Klingelschild hatte die Wohnung in der ersten Etage nicht. Drei Einzelzimmer, eine nahezu ungenutzte Küche, drei alleinstehende junge Lehrerinnen, die sich alle in die tristeste Gegend Ostfrankreichs strafversetzt fühlten, einen pädagogischen Auftrag zu erfüllen, jede in ihrem Fach.

Ich stehe fragend vor dem Haus, soll ich klingeln? Was soll ich fragen? Fotografien in der Hand. Wer erinnert sich an Liliane, nach 50 Jahren? Ob das Ehepaar noch lebt, beide Deutschlehrer, die nie ein Wort Deutsch mit mir sprachen, aus Scham, grammatikalische Fehler zu machen? Ich lasse es. Die drei jungen Lehrerinnen, in den Nebel der Meuse versetzt, bekommen Schocks. Eine steigt nicht mehr aus der Badewanne, will sich die Tristesse der Umgebung abwaschen, bekommt Weinkrämpfe, erscheint nicht zum Unterricht, bis sie erst im Krankenhaus später in der Psychiatrie erlöst wird. Die zweite Kollegin aus Südfrankreich, am Fuße der Pyrenäen zu hause, kann nachts nicht ohne ihren Freund schlafen. Dies bringt Unruhe in das Dorf, und nach zwölf Monaten atmen die Ehefrauen der Gegend wieder auf. Liliane flüchtet am Wochenende nach Nancy zu ihren Eltern, korrigiert lieber dort die Klassenarbeiten und ist am schulfreien Mittwoch eh in Nancy an der Uni um sich auf das CAPES vorzubereiten. Zweimal zwei Tage in der Woche in Montmédy und den Bahnhof vor Augen – das hält frau aus.

Ich gehe Richtung Dorfstraße. Die alte Schotterstraße ist breiter, wurde geteert. Sie führt auf den Dorfplatz zu, den Mittelpunkt. Wo ist das einzige Restaurant an der Ecke, das Dorfcafé daneben und irgendwo dazwischen ein Haushaltswarengeschäft? Die Straße weiter der Lebensmittelkaufmann des Dorfes und rechts gab es noch eine klassische Boulangerie, die nur einmal in der Woche zusätzlich etwas anderes backte als Baguette. Sie nannten es Schwarzbrot, es war sehr dunkelbraun und nach zwei Tagen so hart, dass es die Kaninchen nicht mehr anrührten, um ihre Vorderzähne zu kürzen. Ich stehe hilflos, ratlos auf dem Dorfplatz, sehe am 8. Mai alte Männer an mir vorbei gehen, in blauen Uniformen, ein Abzeichen auf der Brust und die zum Gruß an ihr Barett griffen, begegnete ihnen eine andere blaue Uniform. Irgendwo geht eine Straße zur Festung hoch, eine lange umständliche Straße für Autos, ein kurzer, steiler Aufstieg für Fußgänger. Ich habe 1 Stunde und 37 Minuten Zeit, Spuren zu suchen. Das sind 90 Minuten mit sieben lange Minuten Nachspielzeit.

Pizzaautomat, Drei Minuten Wartezeit

Ich brauche keine Halbzeitpause, hier gehe ich zur Mittellinie, überquere sie nicht und verlasse sie nicht, die Vergangenheit ist in meinem Kopf und kommt nicht vor die Augen. Die Plätze und die Häuser haben sich in meiner Erinnerung verschoben. Das Postgebäude mit der unendlich geduldigen und freundlichen Frau hinter dem Schalter, die alle Briefmarken raussucht, die ich noch für meine Sammlung haben möchte, ist schon lange verschlossen und das Haus wurde wohl nachträglich auf eine andere Straßenseite geschoben und nur das Restaurant steht noch an einer Ecke, aber auf einem anderen Platz. Nun ja, die Erde hat sich in 50 Jahren bewegt, warum die Häuser nicht auch und die Plätze allemal.

Nur die Kneipe, wo ich geflippert und Kaffee getrunken habe ist noch da. Und die alten Männer mit ihren krumm gebeugten Rücken gehen auch rein, kommen aber zum Rauchen wieder raus. Der Wirt ist auch da, damals lief er in kurzen Hosen vor der Theke, jetzt in langen Hosen hinter der Theke und bringt mir einen Cafe Allengé. Ich erkenne ihn an seiner überlangen, vorstehende Unterlippe wieder, die mich damals faszinierte und die mich fragen ließ; Kann man damit küssen? Er tut mir leid, er wird es wohl nie probiert haben, aber mir fällt das Haus Habsburg ein, von denen viele Herrscher auf Gemälden an dieser markanten Unterlippe zu erkennen sind.

Karl II, Habsburger, König von Spanien mit typisch vorspringendem habsburgischen Mund- und Unterkieferzügen

Am gegenüberliegenden Ufer der Meuse begann das haburgische Reich und viele Herrscher haben Gent oder Antwerpen besucht. Ein gentechnischer Vergleich würde dem Wirt heute nichts mehr nutzen, aber vor 40 Jahren hätte es ihn vielleicht aus Montmédy befreit. Jetzt reicht er Kaffee und Bier an etwa 15 Männer, die mit einem Auge Pferderennen im Fernsehen verfolgen und ihre sicher nicht üppigen Renten an elektronischen Banditen in Wettscheine umtauschen, um sie später auf Gewinn oder Verlust lasern zu lassen. Eine feste Welt um den möglichen Spross der Habsburger, deren scheinbare feste Welt vor mehr als 100 Jahren zerbröselte.

Mehr Gras als Gleis, keine Bahnhektik in Montmédy

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