Nancy

Ein halbes Jahrhundert ist vergangen, dass ich in Nancy war. 150 Minuten Zugfahrt ab 6.08 Uhr, umsteigen in der Nähe von Reims, im TGV nach Nancy. Was wird mich erwarten? Banges Erwarten? Nein, nur Gewissheit, Entsorgen der Ungewissheit: Wie geht es ihr, was ist aus ihr geworden? Heirat, Kinder, CAPES bestanden? Große Gefühle?

Kurz vor 9 Uhr Ankunft in Nancy, noch zu früh, für einen überraschenden, unangemeldeten Besuch. Áuf den Place Stanislas schauen, von dem man nicht viel sieht, weil irgend eine Attraktion ab- oder aufgebaut wird. Ob die Kellner noch immer wie Artisten um einander mit vollem Tablett jonglieren, wenn sie sich im Gedränge vor der Küche oder zwischen den Tischreihen begegnen? Das war mal die Attraktion, deswegen konnte man schon in die Cafés gehen. Ich bin jetzt mit den Gedanken woanders.

Gegen 10 Uhr einen kleinen Blumenstrauß gekauft und dann ein Taxi gesucht. Das war schwierig, weil vor dem Bahnhof die Straße aufgerissen worden ist, und die Taxifahrer sich fast unauffindbar versteckt haben. „Nach Saint-Max bitte“, der Taxifahrer ist BVB-Fan. Warum kann er mir nicht erklären oder ich verstehe nicht die Zwischentöne, die es vielleicht auch nicht gibt. Macht 15 Euro. Das Haus erkenne ich wieder, nur die Namensschilder sagen mir nichts. Ich klingele, wo ich die Wohnung vermute, es öffnet niemand, gegenüber auch niemand. Da die Haustür nur angelehnt ist, gehe ich ins Treppenhaus und klopfe an die Wohnungstür. Es öffnet eine ältere Frau, die aber nicht meine Freundin ist. Ich erkläre meine Suche und sie erinnert sich an die Eltern, die aber nicht in dieser, sondern gegenüber gewohnt haben. Wie schon in Montmedy hat mir die Erinnerung einen Streich gespielt, alles spiegelverkehrt.

Nachdem der Vater gestorben ist, sei sie mit der Mutter nach Lyon gezogen. Wie, allein nach Lyon? Nein, sie habe geheiratet und sei Mutter einer Tochter. Und wann war das? Aus einem Zimmer kommt ein Mann, offensichtlich der Sohn, der Mutter zur Hilfe. Das war vor ungefähr 20 Jahren. ich krame ein paar Fotos hervor, auf denen sie meine Freundin in jungen Jahren wieder erkennen. Ich wirke vertrauenswürdig, dem Mann fällt nun auch der neue Familienname ein, den er mir notiert. Wo sie aber jetzt in Lyon wohnt, wüssten sie nicht, sie hätten auch keinen Kontakt mehr, wüssten auch gar nicht, ob sie noch lebe. Ich bedanke mich, schenke der Frau die Blumen und mache mich für zwei Euro per Bus auf den Weg Richtung Innenstadt. Meine Neugierde ist befriedigt, ich denke, sie hat noch ihr Glück gefunden und damit soll es gut sein.

Es ist kalt in Nancy, 6 ° und windig. Ein Gang durch die an sieben Tagen geöffnete Markthalle in der Innenstadt mit großzügigen Restaurantangebot, auch für den Winter. Hier trifft sich die High-Society am Samstagmorgen zu einem gepflegten Tet-à-tet bei preislich gehobenen Getränken, Meeresfrüchten und Spezialitäten, „die Ihr unbedingt mal probieren müsst, die Ihr mit dem Oeuvre noch nie bekommen habt.“ Das eingekaufte Gemüse, wohlgefällig im offenen, handgeflochtenen Korb mit drapiertem Häkelabschluss präsentiert, bekommt nicht, wie angekündigt, die Familie als Gemüsesuppe nach neuestem Rezept, sondern das Kaninchen der Jüngsten, weil Mutterns Gemüsesuppe familienintern als geschmacklich unterirdisch bezeichnet wird.

Mein Zug fährt erst um 16.24 Uhr, bis dahin hätte ich Zeit zum Erinnerunsaustausch gehabt, der entfällt, was den Austausch angeht, die Erinnerungen bleiben. Also eine Plat de jour (Tagesgericht) ausprobieren. Eine dickflüssige Suppe aus roten Bohnen, Linsen oder was die Saison gerade hergibt und alles mittig garniert mit einer Schnecke Kartoffelpurree, gepresst aus der größten Plätzchentülle, die zur Verfügung steht. Garniert mit Petersilie und abgeschmeckt nach Familiengeschmack. Apropos abgeschmeckt, auch das Dessert in einem Glas, ehemaliges Senfglas, auf dessen Boden ein grober Keks liegt und auf den zu 3/5 eine gleichstarke Melange aus zehnprozentigem Joghurt und Buttermilch gegossen wird, die je nach Zumutung mit Zitronensaft angereichert werden muss, dass mir aber keine Säure dominiert. Gedeckelt wird alles mit halbsteifer Sahne, die mittels eines Zahnstochers und etwas Schokopuder wie beim Capuccino zu einer Dreiviertel Umrundung garniert wird. Da ich der letzte Gast des Mittagsessens war und voll des Lobes über den Koch, freute der sich und wir plauderten noch ein gutes halbes Stündchen über die Genüsse der französischen Küche.

So blieb mir warm, während dem Pianospieler im Bahnhof von Nancy wohl die Finger kalt und steif wurden, und auch wenn er heftiger in die Tasten schlug, das Trinkgeld hielt sich in Maßen.. Denn die Zuhörerschaft wuchs, je näher die Abfahrtszeit des TGV rückte. Die SNCF verschwieg nämlich den Bahnsteig und erst als auf dem Bahnsteig Fahrkartenkontrollen wie beim Cheque-in zum Flughafenbus oder zur Gangway aufgebaut waren, wurde der Bahnsteig bekannt gegeben. Ohne Platzreservierung wird kein TGV bestiegen und Stehplätze in den Gängen, vor den Ausstiegen oder den Toiletten mit halben Studentenwohnheimausstattungen oder Rennrädern auf dem Buckel wie bei den bahndeutschen ICEs sind in dem doch alles so locker nehmenden Frankreich nicht denkbar. Ist ein Zug ausgebucht, gibt es eben keine weiteren Fahrgäste wie es auch selbst bei Ryanair keine Stehplätze im Mittelgang oder auf dem Schoß des Stewards gibt.

Ich bin erstaunt über die Sauberkeit auch in den Regionalzügen der französischen Bahn. Keine Schmierereien außen an den Waggons, zumindest in dem östlichen Landesteil, keine versauten oder beschmierten Waggons im inneren. Es gibt an keinem Sitzgeviert einen kleinen Abfalleimer aus Raucherzeiten, sondern nur eine Steckdose zum Aufladen des Smartphones. Flaschensammler habe ich keine gesehen, weil es erst ab 2025 wieder ein Pfandsystem in Frankreich geben soll. Diese Regionalzüge besteigen alle mit elektronischen Fahrkarten, und Kontrollen scheinen mir selten. Mit Regionalzügen fährt niemand irgend wohin, sondern rollt des Abends auf das Abstellgleis des Arbeitsalltags. Wer als letzter aussteigt, könnte den Zug nächtens in seiner Garage parken und ihn am nächsten Morgen wieder aufs Gleis stellen. Morgen ab 5.20 Uhr stelle ich meinen Zug aufs Gleis und die Weichen in Richtung Dülmen.

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