Was hat sich verändert
Eins, zwei, drei im Sauseschritt, eilt die Zeit, wir eilen mit. Dieses Zitat von Wilhelm Busch kommt mir in den Sinn, wenn ich durch Charleville-Mézières gehe. Ich bin im November angekommen, als ich im letzten Jahr die Stadt verließ. Wie sah Dülmen im November 2024 aus, wie heute? Wissen Sie es noch, können Sie über Veränderungen berichten? Es wird schwierig. Mein Coiffeur Solidaire ist umgezogen, hat sich vergrößert. Offensicht ist der Jungenhaarschnitt von 7 € und für Erwachsene mit 15 € so gut kalkuliert, dass er diesen Schritt wagen konnte. Auch in Frankreich gibt es einen Mindestlohn von 11,88 € brutto.
Der Monatslohn beträgt bei einer 35-Stunden-Woche 1801,80 €. Das entspricht einem Nettomindestlohn von 9,40 €/Stunde oder 1.426 €/Monat. Bei um ca. einem Drittel höheren Lebensmittelpreisen als in Deutschland kaum ausreichend für eine Familie.

Der neu eingerichtete Coiffeur Solidaire mit preiswerten Angeboten.
Nebenan ein „Späti“, wie die früheren Trinkhallen des Ruhrgebietes heute berlinerisch heißen. Hier bekomme ich noch nach 21 Uhr, wenn Carrefour bereits geschlossen hat, meinen Tee, diverse Sorten Pizzas und viel Alkohol. Betrieben von einer arabisch stämmigen Familie, die ihre Nische in dieser Stadt gefunden hat und dank des Zusammenhaltes der Familie nicht üppig, aber ausreichend versorgt, leben kann.
Ich gehe zu meinem Stammcafé am Place Ducale, der Ober begrüßt mich mit Handschlag. „Un café alengé?“, als wäre ich nicht monatelang, sondern nur ein kurze Woche fort gewesen. Ich fühle mich ein wenig wie zuhause. 14 °C, die Sonne schwächelt über den Platz, wo der Weihnachtsmarkt aufgebaut wird, aber gut eingepackt lässt es sich eine viertel Stunde aushalten.

Meine Lieblingsverkäuferin Nadia in der Chocolaterie gegenüber dem Artisan du Monde
Gegenüber dem Artisan du Monde befindet sich meine Chocolaterie. Durch die Schaufensterscheiben winke ich der Verkäuferin mittleren Alters, sie stürmt heraus, zögert mich zu umarmen, aber strahlt. „Sind Sie auch wieder da, wie geht es Ihnen und wie lange bleiben Sie?“ Alles in einem Satz und beim Abschied unterhalten wir uns über die Gefährlichkeit des Glatteises in den umliegenden Dörfern der Ardennen im Winter. Irgendwie bin ich angekommen.

Meine zentrale Buchhandlung Rimbaud
Die Buchhändlerin meines Vertrauens in der Buchhandlung Rimbaud erkennt mich auch wieder, entschuldigt sich bei meiner Bestellung, dass sie mich um meine Visitenkarte bittet, weil sie sich meinen deutschen Namen doch nicht hat merken können. Aber den Scherenschnitt auf meiner Visitenkarte hatte sie in Erinnerung.
Bürgermeister Ravignon ist für sein Personengedächtnis bekannt, darum verwunderte es mich bei der Gedenkveranstaltung am 11. Nov. nicht, dass er mich mit dem Modellbau des Rathauses von Mézières in Verbindung brachte, welches das Partnerschaftskomitee ihm vor fast drei Jahren präsentierte. Zumal wir uns am 11. Nov. letzten Jahres auch getroffen hatten. Wir unterhalten uns zum Erstaunen der Umstehenden zwei, drei Sätze auf Deutsch und er zeigt sich erfreut, dass ich für sechs Wochen in Charleville-Mézières wohnen werde.
Nur mein Bouquinist fehlt, er hat im September aus Altersgründen geschlossen und ich werde keine Vorträge mehr über Literatur, die ich eh nur bruchstückhaft verstanden habe, hören. Aber mein interessierter Gesichtsausdruck animierte ihn, fortzufahren. Während des Festival de la Marionette im September habe ich noch eine leicht zerfledderte Ausgabe der „Histoire de Charleville“ von 1606 bis 1946 erstanden, schön übersichtlich nach Jahreszahlen auf 208 Seiten geordnet. Was dort nicht drin steht, ist auch nicht passiert.
Ebenso geschlossen hat das elegante Damenmodegeschäft, in welchem die Dame sich für einen festlichen Anlass une robe extraordinaire ausleihen konnte. Ab 20 € war die Dame für einen Abend plus chic als ihr porte-monnaie es erlaubte. Ob es am mangelnden Angebot oder fehlender Nachfrage lag, ich weiß es nicht. Ich erinnere mich an ein Second-Hand-Geschäft in München-Schwabing in welchem der bayerische Adel und auch die Fernsehansagerinnen, die es damals auch noch gab, ihre einmal getragene Blusen, Pullover oder Kleider anboten, aber nur aus den letzten 12 Monaten, und die Kundin mit den Worten begrüßt wurde: „Möchten sie heute etwas von Dior, Lagerfeld oder Armani. Dann schauen wir mal, ob wir etwas in Ihrer Größe vorrätig haben“. Soweit ist man in Charleville-Mézières noch nicht.
Morgen sollte ich in die Markthalle gehen, mit meinen Imkerfreunden sprechen, aber ich bin verhindert. Ich fühle mich auch außerhalb des Artisan du Monde ein wenig beheimatet, wenn ich doch nur auch in der Sprache heimischer wäre.
